Missbrauch der Gestaltungsformen des Wahlrechts: die Überhangmandate

Überhangmandate gehören zum Erscheinungsbild des deutschen Wahlrechts seit 1949. Das Verfas­sungsgericht hat schon 1957 seine Stimme erhoben und kritisiert: „Gewiss, eröffnet das Institut der Überhangmandate Manipulationsmöglichkeiten. Deren Verfassungsmäßigkeit müsste aber im Falle eines Missbrauchs angezweifelt werden.“ (BVerfGE 7, 66 (75)). Obwohl es immer wieder zu Strei­tigkeiten kam, lässt sich danach aber kein höchstrichterliches Urteil ausfindig machen, das damit Ernst gemacht und vom Gesetzgeber verlangt hätte, ein Wahlrecht ohne Überhangmandate zu schaffen.

Es gibt allerdings ein sehr anschauliches Beispiel dafür, wie sich die Wahl durch Überhänge „ergaunern“ lässt: z.B. durch die bundesweite Ausdehnung der CSU. Darüber ist 1976 zwischen den bei­den Schwesterparteien CDU und CSU ein heftiger Streit entbrannt, der in späterer Zeit immer wieder aufflammte. Über eine bundesweite CSU hatte man schon 1972 diskutiert. Aber auch 1976 ist es nicht dazu gekommen. Es ist nämlich ein großer Unterschied, ob man mit beiden Stimmen über ein und denselben Abgeordneten – zweimal – abstimmt oder ob man beide Stimmen trennt und dann mit jeder von beiden Stimmen zwei verschiedene Abgeordnete wählt, nämlich den einen mit der Erststimme, den anderen mit der abgetrennten Zweitstimme.

Die CSU wollte das ausnutzen und in ausgewählten Wahlkreisen außerhalb Bayerns, in denen die CDU zuvor nicht erfolgreich war, allein für die Erststimmen kandidieren, auf die Listenwahl in dem entsprechenden Bundesland jedoch verzichten. Die CDU sollte in den ausgewählten Ländern für die Zweitstimmen-Wahl antreten und ihre Wähler dazu aufrufen, mit den Erststimmen die handverlesenen Wahlkreis-Kandidaten der CSU zu wählen, für die es keine Landesliste gibt. Dieses „Patentrezept“  hätte natürlich zu sog. „Überhängen“ geführt. Denn die CSU hätte mit Hilfe der CDU im Wahlkreis gewinnen können. Die CDU hätte die durch das Stimmen­splitting von den Direktmandaten abgetrennten Listenplätze aber nicht verloren. Die „personalisierte“ Verhältniswahl hätte sich in ihre beiden Bestandteile aufgelöst.

An die Stelle einer Wahl mit beiden Stimmen wären zwei Wahlen mit je einer Stimme getreten. CDU und CSU hatten 1976 mit 48,6 % der Zweitstimmen die absolute Mehrheit nur sehr knapp ver­fehlt. Nach dem Motto: Getrennt marschieren, vereint schlagen, hätten nur wenige durch gespaltene Abstimmung zusätzlich entstandene Überhangmandate ausgereicht. Einige Direktmandate wären unter tatkräftiger Mithilfe der Erststimmen von CDU-Wählern zu CSU gewandert. Die von diesen Direktmandaten abgetrennten Listenplätze wären aber nicht entfallen, sondern bei der CDU verblieben. Diese Wahlhilfe-auf-Gegenseitigkeit hätte schon genügt, um den beiden Schwesterparteien den gemeinsamen Wahlsieg zu bringen.

Dazu kam es aber nicht. Der CDU-Vorsitzende, Helmut Kohl, lehnte eine solche Wahlabsprache kate­gorisch ab. Franz Josef Strauß schäumte vor Wut und wollte 1976 sogar die Fraktionsgemeinschaft im Bundestag aufkündigen. Die eigentliche Ironie der Geschichte war jedoch, dass Helmut Kohl schon 1976 sehr leicht hätte Kanzler werden können. Ein Überhang oder zwei und die dubiose Rech­nung wäre aufgegangen. Ein Wahlsieg war damals zum Greifen nahe. Helmut Kohl griff aber nicht zu und sollte wegen seines rigorosen Widerstands gegen eine bundesweite Ausdehnung der CSU – allein bei den Erststimmen in ausgesuchten Wahlkreisen! – tatsächlich erst 1982 Kanzler werden.

Wäre es 1976 zu einer bundesweiten Ausdehnung der CSU bei den Erststimmen gekommen, hätte man die gespaltene Abstimmung – schon um den Schwesterparteien von CDU und CSU den dubiosen Sieg aus der Hand zu winden – natürlich als Missbrauch der Gestaltungsformen des Wahl­rechts betrachtet. Vermutlich hätte ein Viertel der Abgeordneten des Bundestages sogar schon 1976 versucht, die leidigen „Überhänge“ durch eine höchstrichterliche Normenkontrolle zu Fall zu bringen. Es spricht also nichts dafür, die „Manipulationsmöglichkeit“ der schwer durchschaubaren „Über­hänge“ mit einer Bestandsgarantie rechtlich abzusichern. Denn zu allem Überfluss geht das Bundeswahlgesetz in § 6 Abs. 4 Satz 2 BWahlG nicht von einem unzulässigen Missbrauch, sondern von der Zulässigkeit der Überhänge aus.

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