NACHRÜCKER-REGLUNG IM FALL PETRA HINZ UND KATHERINA REICHE

„Ist der Ruf erst ruiniert …“

… so lebt man völlig ungeniert.“ Wegen falscher Angaben über ihren Bildungsweg und ihre berufliche Qualifikation ist die Bundestagsabgeordnete Petra Hinz (SPD) in die Schlagzeilen geraten. Ihr wird zur Last ge­legt, die Hochschulreife und das Studium der Rechtswissenschaften vorgetäuscht zu haben. Die Abgeordnete hatte zunächst offen gelassen, wann sie ihr Mandat niederlegen werde und damit für weiter Schlagzeilen gesorgt. Aber auch Wilhem Busch, von dem das Zitat in der Überschrift stammt, konnte Petra Hinz nicht retten. Sie gab auf und verließ Anfang September den Deutschen Bundestag.  Doch aus wahl- und verfassungsrechtlichen Gründen fällt an Petra Hinz etwas ganz anderes auf: Sie ist 2013 von der örtlichen SPD im Wahlkreis 120 (Essen III) nominiert worden, hat dort aber ver­loren. Trotzdem ist sie über die Landesliste der SPD in Nordrhein-Westfahlen in das Berliner Parlament eingezogen. Sie hatte also zwei Wahlchancen: im Wahlkreis 120 / Essen III (https://www.bundestag.de/wk120) und als sog. „abgesicherte“ Kandidatin auf der Landes­liste der SPD in Nordrhein-Westfalen.

Eine solche Doppelkandidatur ist mit dem Grundgesetz unvereinbar. Gleichwohl ist sie stän­dige Praxis. In § 18 Abs 5 BWahlG heißt es zwar: „Eine Partei kann in jedem Wahlkreis nur einen Kreiswahl-Vorschlag und in jedem Land nur eine Landesliste einreichen.“ Das ist aber eine irreführende Formulierung, weil sie die Doppelkandidatur im Wahlkreis und auf der Lan­desliste nicht ausschließt. Gesetzt den Fall, Petra Hinz hätte im Wahlkreis gewonnen und wäre zugleich auch über die Landesliste gewählt worden, wäre es ihr schon physisch unmög­lich, zweimal im Bundestag zu sitzen. Auch würde ihr der Bundestagspräsident natürlich nicht gestatten, dass sie im Bundestag für beide Mandate doppelt abstimmen darf. Man braucht es nicht umständlich zu beweisen: Eine Doppelkandidatur kann vor dem Grundgesetz offensichtlich keinen Bestand haben.

Zwei Stimmen sind zwei Wahlen, ergeben aber nur ein Mandat

Und das ist das ganze Elend des dualen Wahlsystem mit Erst und Zweitstimme, die allgemein als „personalisierte“ Verhältniswahl bezeichnet wird: man kann zweimal gewählt werden, be­kleidet aber nur ein Mandat. Wenn man der Sache auf den Grund geht, dann kommt es zu einer weiteren Verunsicherung. Nach der Wahl v. 22.9.2013 sind 631 Abgeordnete in den Bundestag eingezogen. Regulär gibt es aber nur 598 Plätze. Schlimmer noch sind nur 299 Wahlkreise vorhanden. Und das führt zwangläufig dazu, dass höchstens 299 Abgeordnete im Wahlkreis und über die Landesliste gewählt werden können. Mindestens 299 Volksvertreter ziehen – wie Petra Hinz – allein über die Landesliste ihrer Partei in das Parlament ein. Von Chancengleichheit bei der Kandidatur konnte schon keine Rede sein. Wenn die einen mit der Erst- und der Zweitstimme gewählt werden, die anderen aber nicht, dann ist auch das mit dem Grundsatz der Wahl unter vergleichbaren Voraussetzungen unvereinbar.

Erschwerend kommt hinzu: Die Wähler können beide Stimmen getrennt von einander ver­geben. (Fakultatives Stimmensplitting) Doch selbst wenn sie alle ohne Ausnahme beide Stimmen im Verbund abgeben – was die Wähler, die beide Stimmen getrennt von einander abgeben, ja nicht tun – könnten sie damit nicht erreichen, dass alle Abgeordneten mit beiden Stimmen gewählt werden. Denn dafür stünden gar nicht genug Wahlkreise zur Verfügung. Das aktive und das passive Wahlrecht sind nicht deckungsgleich. Die meisten Wähler ver­lieren hier bereist den Überblick. Das ist einmalig auf der ganzen Welt: Die Deutschen wäh­len nach einem Verfahren, dass die gewöhnlich anzutreffenden Wähler nicht hinreichend durchschauen. Das hat Infrates dimap in einer repräsentativen Umfrage vom April 2013 sehr eindrucksvoll bestätigt. http://www.infratest-dimap.de/umfragen-analysen/bundesweit/ard-deutschlandtrend/2013/wahlsystem-waehlen-ohne-wissen/

Aber das Drama ist noch nicht zu Ende. Tritt Petra Hinz wider Erwarten doch noch zurück, rückt nach § 48 Abs 1 Satz 1 BWahlG jemand von der Landesliste der SPD nach. „Wenn ein (…) Abgeordneter (…) aus dem Bundestag ausscheidet, so wird der Sitz aus der Landesliste derjenigen Partei besetzt, für die (…) der ausgeschiedene Abgeordnete bei der Wahl aufge­treten ist.“ – Kompliziert wird es jedoch, wenn der Mandatsträger oder die Mandatsträgerin in einem Wahlkreis gewonnen hat. Das zeigt ein anderer Fall, der aus ganz anderen Gründen für Schlagzeilen gesorgt hat.

Der Fall Katherina Reiche

Am 4. September 2015 ist Katherina Reiche (CDU) gerade noch rechzeitig aus dem Bundestag ausgeschieden bevor das Karenzzeit-Gesetz in Kraft trat und steht in ihrem anrüchigen finanziellen Gebaren Petra Hinz in nichts nach. Ihr Wahlkreis Nr. 061 (Potsdam / Potsdam-Mittelmark II / Teltow-Fläming II) lag in Brandenburg – wohlgemerkt eines der vier Bundesländer, in denen es bei der Wahl vom 22. September 2013 zu einem sogenannten „Überhangmandat“ kam. (https://www.bundestag.de/wk061 Aus der Landesliste der CDU konnte kein Nachrücker aufgeboten werden, denn auf der „Reservebank“ dieser Landes-Partei saß niemand mehr, der hätte nachrücken können. Für diesen Fall hat der Gesetzgeber vorgesorgt. In § 48 Abs 1 Satz 4 BWahlG wird angeordnet: „Ist die Liste erschöpft, so bleibt der Sitz unbesetzt.“ Seit dem Ausscheiden von Katherina Reiche, hat der Bundestag deshalb nicht mehr 631, sondern nur noch 630 Mitglieder. https://www.bundestag.de/bundestag/abgeordnete18/ausgeschiedene

Aber das ist nicht der springende Punkt. Bekanntlich sind bei der Wahl zum 18. Deutschen Bundestag in vier Bundeländern (Thüringen, Sachsen-Anhalt, Brandenburg und im Saarland) 4 sog. „Überhangmandate“ entstanden. Alle bei einer Landespartei der CDU. Die Gewitter­wolken zogen sich über Brandenburg zusammen, wo gleichsam eine Windhose entstand, weil es dort ein „Überhangmandat“ gab. Fällt ein „Überhang“ weg, verändert sich damit auch die Differenz zwischen den Listenplätzen und den Direktmandaten, die von der Landes-CDU in Brandenburg errungen wurden. Und das hat schwerwiegende Folgen.

Wer sich die Mühe macht und nachzählt, der kommt zu dem Ergebnis, dass 2013 die Kan­didaten der Landes-CDU in 9 von insgesamt 10 Wahlkreisen Brandenburgs siegreich waren. Ein Wahlkreis fiel an einen Bewerber der SPD. Die CDU konnte aber nur 8 Listenplätze erringen und blieb mit einem Listenplatz hinter der Summe der Wahlkreissieger aus ihren Reihen zurück. Und das ergibt ein „Überhandmandat“. Eine sehr irreführende Begriffsbil­dung, weil sie suggeriert, es sei ein Mandat entstanden, das dem gewählten Abgeordneten in Wahrheit gar nicht zustehe. Aber so ist es nicht. Der Landeswahlleiter hat Katherina Reiche bestätigt, dass sie vor ihren Mitbewerbern mit 32,6 Prozent der Erststimmen ordnungsgemäß gewählt wurde. Und in § 6 Abs 4 Satz 2 heißt es: „In den Wahlkreisen errungene Sitze ver­bleiben einer Partei (…)“, und zwar auch dann „wenn die Listenplätze hinter den Direkt­mandaten zurückbleiben.

Ein Viertel der „Überhänge“ ist verschwunden

Auch wenn es landauf landab behauptet wird, trifft einfach nicht zu, dass es in Brandenburg einen Abgeordneten gibt, dem das von ihm errungene Direktmandat in Wahrheit gar nicht zu­steht. Diese weit verbreitete Auffassung findet im Bundeswahlgesetz keine Stütze. Sie ist ein Märchen und bleibt ein Märchen. Aber Märchen sind weit verbreitet und werden gerne wei­tererzählt. Doch zurück zum Fall Katherina Reiche. Ihr Wahlkreis bleibt vakant. Das ist amt­lich. Dadurch verändert sich die Differenz zwischen Direktmandaten und Listenplätzen der CDU in Brandenburg. Bei einem Zähl-Appell kommt ans Licht, dass die CDU in Branden­burg nach dem Ausscheiden von Katerina Reiche auf 8 Listenplätze und 8 Direktmandate kommt. – Und siehe da: Das Überhangmandat in Brandenburg ist verschwunden!

Doch das ist kein Grund um aufzuatmen. Bei der Bundestagswahl am 22.9.2013 sind 4 Über­hänge in vier Bundesländern entstanden. Sie wurden ausgeglichen, aber nicht durch 4, son­dern durch 29 Ausgleichsmandate. Der Ausgleich überstieg den Überhang um mehr als das Siebenfache. Das ist unstreitig; und der Wahleiter hat das als endgültiges amtliches Wahl­ergebnis ja auch so verkündet. https://www.bundeswahlleiter.de/de/aktuelle_mitteilungen/downloads/20131009_Erl_Sitzzuteilung.pdf

Fällt nun ein Viertel der insgesamt vier Überhangmandate weg, dann entfällt auch der Rechts­grund für ein Viertel der Ausgleichsmandate. Demnach müssten 7 aus 29 Abgeordneten, die lediglich ein Ausgleichsmandat bekleiden, den Bundestag wieder verlassen. Würde man damit ernstmachen, hätte das Parlament in Berlin danach nicht 630, sondern nur 623 Mitglieder. Und das ist etwas, was natürlich niemandem einleuchten will, schon gar nicht, wenn er zu denen gehört, die im ehemaligen Reichstagsgebäude einen gut dotierten Arbeits­platz unter einer herrlichen Glaskuppel ergattert konnten. Wie auch immer denkt weder der Bundestagspräsident noch der Bundeswahlleiter auch nur im Traum daran, die Abgeordneten mit Ausgleichsman­dat zu ermitteln und sieben von Ihnen aus verschiedenen Bundesländern und aus verschieden Parteien wieder „vor die Türe“ des Hohen Hauses zu setzen, weil in Brandenburg ein Viertel der Überhänge weggefallen ist.

Ein verfassungswidriges „mixtum compositium“

In der Zusammenfassung ergibt sich folgendes Bild: Nach der Wahl, vom 22.9.2013 sind 631 Abgeordnete in den 18. Deutschen Bundestag eingezogen. Im Parlament gibt es regulär aber nur 598 Plätze. Man fasst es kaum, aber es sind auch nur 299 Wahlkreise vorhanden. Da passt also gar nichts mehr zusammen. Das völlig überfrachtete Konstrukt des dualen Wahlverfahren mit Erst- und Zweitstimme ist ein „mixtum compositum“, ein Mischmasch aus der personen­bezogenen „Mehrheitswahl“ und der parteienbezogen „Verhältniswahl“, besser aus der Perso­nenwahl und Parteienwahl. Es hat 2013 zu 4 „Überhängen“ geführt. 2009 sind es 24 gewesen. Sie wurden ausgeglichen, aber nicht durch 4, sondern durch 29 Ausgleichsmandate. Der Aus­gleich überstieg 2013 den Überhang um mehr als das Siebenfache.

Damit nicht genug wurden der CDU 13, der SPD 10, den Linken 4 und den Grünen 2 der ins­gesamt 29 Aufstockungsmandate zugewiesen. Die CSU ging leer aus. Die CDU erhielt also den „Löwenanteil“ am nachgeschobenen Mandatsausgleich. Die alleinige Verursacherin der 4 „Überhänge“ wurde damit zum größten Ausgleichsprofiteur. („Negatives“ Stimmengewicht) Doch der springende Punkt ist ein anderer. Ausgleichsmandate können erst verteilt werden, wenn die Wahllokale geschlossen, die Stimmen ausgezählt und die „Überhänge“ sichtbar ge­worden sind. Sie können also unmöglich durch eine Abstimmung der Wähler legitimiert sein. Die 29 Abgeordneten die lediglich ein Ausgleichsmandat bekleiden, wurden weder in allge­meiner, noch in unmittelbarer, noch in gleicher, noch in geheimer und schon gar nicht in freier Wahl gewählt. Sie wurden sind überhaupt nicht gewählt. Und das ist grob verfassungs­widrig. Deshalb müssen alle 29 den Bundestag auf schnellstem Wege wieder verlassen.

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