Das Stimmensplitting – eine Glosse

Nicht Kopf, nicht Zahl

Die Deutschen lieben klare Wahlentscheidungen nicht, bei denen es heißt: Kopf oder Zahl. Weil man nicht beides haben kann, werfen sie zwei Münzen. Wenn beide Münzen auf Zahl fallen, ist das kein Problem. Fällt eine auf Kopf, die andere auf Zahl, was dann? Werfen die Deutschen dann eine dritte Münze? Tatsächlich, sie tun es: Denn sie gleichen das Wahlergebnis aus, wenn es ihnen nicht passt.

Der Jüngling Paris, Sohn des trojanischen Königs Priamos, hatte einen goldenen Apfel mit der Aufschrift „kallistá“, d.h. der Schönsten. Der schönsten von drei Göttinnen sollte er ihn geben. Er gab ihn weder Athene, die ihm als Gegenleistung Weisheit versprach. Er gab ihn auch nicht Hera, die ihn zum mächtigsten Herrscher der damaligen Welt machen wollte. Den goldenen Apfel gab er Aphrodite, die ihm eine Liebschaft mit der schönen Helena zusicherte, die aber schon mit Menelaos, dem König von Sparta, verheiratet war. Und das löste den Krieg von Troja aus. Das ist die griechische Version der schicksalhaften Wahlentscheidung des Paris. Die deutsche Version wäre wohl etwas anders ausgefallen: Paris hätte nicht einen, sondern zwei Äepfel gehabt.

Die Deutschen wählen jedenfalls mit zwei Stimmen, bevorzugen im Grundsatz aber die Verhältniswahl. Dabei werden keine Personen, sondern Parteien gewählt. Und weil eine Partei nur selten die absolute Mehrheit der Mandate im Parlament alleine erreicht, sind diese in aller Regel auf die Bildung von Koalitionen angewiesen, mit allen Nachteilen, die das nach sich zieht. Bei der Direktwahl ist das anders. Im Wahlkreis genügt schon die relative Mehrheit für den Sieg. Koalitionen sind daher selten. Und das ist ja auch nicht schlecht. Deshalb versuchen die Deutschen beide Wahlsysteme im Verhältnis 50 : 50 zu mischen.

Das geht aber nicht so einfach, denn beide Systeme emulgieren nicht, lassen sich also nicht mischen. Deshalb wählen die Deutschen nach wie vor die politischen Parteien und zwar mit Landeslisten in 16 Bundesländern. Sie wollen aber, dass vorab wenigstens die Reihenfolge auf den Listen der Parteien durch Direktwahl in Wahlkreisen festgelegt wird. Und weil sie nicht rechnen können, gibt es dafür zu wenig Wahlkreise. Niemand kann mit 299 Wahlkreise 598 Plätze im Parlament „personalisieren“.

Doch damit nicht genug. Die Deutschen lassen es zu, dass die beiden an einander gekoppelten Stimmen auch getrennt abgegeben werden können. Der Jüngling Paris hat also zwei goldene Äepfel mit der Aufschrift „kallistá“, d.h. der Schönsten. Mit dem einen bestimmt er, welche Göttin er am schönsten findet. Mit dem anderen tut er das auch, gibt aber beide Äepfel getrennt von einander zwei verschiedenen Göttinnen in die Hand. – Damit löst er einen Konflikt unter ihnen aus aus. Und der Trojanische Krieg findet nicht statt.

Bei einer Wahlentscheidung mit zwei Äepfeln sind beide im Verbund abzugeben, das liegt auf der Hand. Und das ist so in § 1  BWahlG fest verankert. Dort wird eine „mit der Personenwahl verbundenen Verhältniswahl“ angeordnet. Die meisten Wähler halten sich daran. Sie geben einen Apfel dem Wahlkreiskandidaten, den anderen der dazugehörenden Partei. Doch überall gibt es „Quertreiber“. Und die tun das nicht. Sie geben einen Apfel dem Kandidaten im Wahlkreis. Den anderen Apfel aber einer gegnerischen Partei.

Was mit dem einen Apfel entschieden wurde, wird mit dem anderen umgestoßen, die getroffene Wahl also über den Haufen geworfen. Und im Ergebnis bedeutet das: nicht Kopf,  nicht Zahl. Der Jüngling Paris hat in der deutschen Version der Mythologie zwei mit einander unverträgliche Entscheidungen getroffen, statt einer. Mit dem einen Apfel hat er seine Partei zur Schönsten erklärt. Mit dem anderen Apfel bringt er zum Ausdruck, dass er auch mit einer anderen Schönheit aus einer gegnerichen Partei etwas hat.

Difficile est, satiram non scribere. Wie schwer fällt es doch, keine Satire zu schreiben.

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