Direktwahl und Verhältniswahl – eine Glosse

Tutti frutti und Rosinenpickerei

Die Deutschen sind ein Volk der Dichter und Denker. Ihnen ist es nicht genug, dass sie nur mit einer Stimme wählen. Sie wollen zwei Stimmen haben. Manchen genügt selbst das nicht. Sie wollen, dass man im Stimmkreis zwei oder noch mehr Abgeordnete wählen kann. Und die besonders Schlauen wollen nicht nur mit zwei, sondern mit mehr als zwei Stimmen zu den Wahlurnen gehen, um damit nicht nur einen Abgeordneten oder eine Partei, sondern von beidem mehrere zu wählen.

Bei den Landtagswahlen Bremen und in Hamburg gibt es „tutti frutti“: Die Wähler haben zweimal je fünf Stimmen zu vergeben. Fünf Erststimmen für die Kandidaten in den Wahlkreisen und fünf Zweitstimmen für die Listen der Parteien. Wenn man den Wählern so viele Stimmen gibt, mit denen sie querbeet abstimmen können wie sie wollen, dann kommt es am Ende zu einer bösen Üeberraschung: Sie verlieren den Üeberblick über die Wahlentscheidung. Wenn sie das Wahllokal verlassen, wissen sie nicht mehr, welchen Abgeordneten und welche Partei sie mit ihrer Ja-Stimme ausgewählt haben. Tatsächlich  haben sie keine wirkliche Auswahl getroffen und niemandem  bedingungslos das Ja-Wort gegeben. In Wahrheit haben sie nämlich mit „Jein“ abgestimmt.

Man kann aber schon mit zwei Stimmen ein ziemliches Tohuwabohu anrichten. Bei der Bundestagswahl 2009 blieb in 8 von 16 Bundesländern das Ergebnis der Landeslisten einer einzelnen Partei hinter ihrem Ergebnis aus der Direktwahl des Landes – bundesweit genommen – um insgesamt 24 Listenplätze zurück. Weil die Zweitstimmen auf Landesebene weniger Mandate erbrachten als die Erststimmen, galt für die davon betroffene Landespartei nicht die Verhältniswahl (mit den Zweitstimmen), sondern die Direktwahl (mit der Erststimmen).

Im Klartext: Bei der CDU kam es bei der Bundestagswahl 2009 in sieben Ländern zur Direktwahl, ebenso bei der CSU in Bayern. Zusammen entstanden für die Union in acht Ländern aus der Verhältniswahl insgesamt 24 Listenplätze weniger als sich Direktmandate aus der Personenwahl ergaben. In den verbleibenden acht Bundesländern galt unverändert auch für die CDU die Listenwahl. Bei den sonstigen Parteien änderte sich nichts, weder im Land, noch im Bund.

Die CDU blieb in Baden-Württemberg  bei der Listenwahl um 10 Mandate hinter der Direktwahl zurück; die CSU in Bayern um 3; der Rest, also 11 von den insgesamt 24 Differenzmandaten entstand in sechs weiteren Ländern. In den verbleibenden acht von insgesamt 16 Bundesländern überwogen umgekehrt die Listenplätze die Direktmandate. Im Ergebnis kam also bei der Union in acht Ländern nicht die schwächere Landesliste, sondern die stärkere Direktwahl zum Zuge, ohne dass auch die anderen Parteien des Landes von diesem Systemwechsel erfasst wurden – um vom Bund gar nicht erst zu reden.

Vor allem steigt  bei Mandatsdifferenzen die Zahl der Wahlkreise nicht an, weder im Land noch im Bund. Es entstehen bei den sog. „Überhangmandaten“ keine zusätzlichen Direktmandate. In 299 Wahlkreisen wurden 299 Wahlkreisbewerber gewählt – keiner mehr und keiner weniger! Man kann daher nicht sagen, dass zu viele Direktkandidaten gewählt wurden. Es entstand seit 1949 kein einziges Mandat, das einem direkt gewählten Abgeordneten in Wahrheit gar nicht zustand. Diese These ist weit verbreitet, muss aber zurückgewiesen werden.

Alle Abgeordneten werden gewählt – entweder direkt oder über die Liste. Es gibt aber zwei Stimmen, die Erst- und die Zweitstimme. Zwei Stimmen ergeben auch zwei Wahlen, nämlich die Personenwahl und die Wahl von Parteien mit ihren Landeslisten. Die stärkere von beiden gilt, aber nur auf Landesebene und nur bei der betroffenen Partei. Weil also auf Landesebene neben der schwächeren Verhältniswahl selektiv bei einer Partei die stärkere Direktwahl zum Zuge kam, gab es seit 1949 bei 18 Wahlen für den Deutschen Bundestag durch diese „Rosinenpickerei“ aus zwei Wahlenverfahren 14-mal mehr Mandate als aus einem Wahlverfahren allein – und das obwohl es nur 299 Wahlkreise gibt, im Bundestag aber 598 Plätze vorhanden sind.

Egal wie, kann man nach den Grundsätzen der Direktwahl abstimmen, aber auch die Verhältniswahl bevorzugen. Beides zusammen passt nicht unter einen Hut: Die gemischte Doppelwahl mit zwei Stimmen, verbunden mit der „Rosinenpickerei“ bei den Mandaten, ist mit dem Grundsatz der gleichen Wahl unvereinbar und als verfassungswidrig zu verwerfen. Daran sollte es keinen Zweifel geben. Den klassischen Grundsatz der Demokratie: „one man one vote“ – pro Kopf eine Stimme – kann man nicht ungestraft aus den Angeln heben.

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