Das Leitbild des Gesetzgebers: eine „Kopfgeburt“?
Ist die „personalisierte“ Verhältniswahl eine „Kopfgeburt? Niemand kann 598 Plätze im Parlament mit Abgeordneten besetzen, wenn dafür nur 299 Wahlkreise zur Verfügung stehen. Das ist schlicht und einfach unmöglich. Deshalb können von vorne herein überhaupt nur die Hälfte aller Listenplätze aus der Zweitstimmen-Wahl durch eine vorgeschobene Erststimmen-Wahl „personalisiert“ werden. Schon an dieser Stelle nimmt das Leitbild des Gesetzgebers für das Bundeswahlgesetz, also die „personalisierte“ Verhältniswahl, Schlagseite und erleidet Schiffbruch.
Außerem war es schon immer der Fall, wird aber nicht oder nur unzureichend zur Kenntnis genommen: In Wirklichkeit häufen sich nämlich die Direktmandate bei den großen Volksparteien an. Die kleinen Parteien erlangen den Sieg in den Wahlkreisen nur vereinzelt oder überhaupt nicht. Bei 18 Bundestagswahlen konnte die FDP 15-mal keinen einzigen der insgesamt 299 Wahlkreise, die auf 16 Bundesländer verteilt sind, für sich gewinnen. Bei den Grünen ist es nicht viel besser. Ausgenommen den Wahlkreis Nr. 83 von Hans Christian Ströbele in Berlin, gewinnen auch die Grünen in den verbleibenden 15 Bundesländern kein einziges Direktmandat – auch in ihrer Hochburg Baden-Württemberg nicht, wo sie nicht nur den Bürgermeister der Landeshauptstadt, sondern auch Minsterpräsidenten des Landes stellen.
Die 16 Landeslisten der Grünen und der FDP wurden nur in einem speziellen Einzelfall, in aller Regel aber gar nicht „personalisiert“. Wenn man das erreichen wollte, müsste man wenigstens das Stimmensplitting unterbinden. Das Stimmensplitting schließt „Personalisierung“ der Zweitstimmen-Wahl durch die Erststimmen-Wahl aus. Beides zusammen lässt sich nicht „unter einen Hut bringen“. Aber selbst wenn man des Verbot des Stimmensplittings, wie es in § 1 BWahlG ja schon verankert ist, tatsächlich auch durchsetzen würde, hätte sich nichts daran verändert, dass sich die Direktmandate bei den Großparteien anhäufen und die kleinen Parteien, von besonderen Einzelfällen abgesehen, leer ausgehen. Von einer „personalisierten“ Verhältniswahl kann demnach tatsächlich überhaupt keine Rede sein. Sie ist eine Fata Morgana.
Trügerische Fata Morgana
In Baden-Württemberg hat der Wahlgesetzgeber des Landes daraus die Konsequenz gezogen: Es gibt in diesem Bundesland keine Landeslisten. Alle Landtagsabgeordneten werden in Wahlkreisen gewählt und entsprechend der Stimmenanteile bei der Verteilung der Mandate auf die Parteien berücksichtigt. Das Wahlrecht folgt also den Grundsätzen der Verhältniswahl, besetzt personell aber alle Listenplätze nach den Grundsätzen der Direktwahl.
So kommt es, dass nicht nur Gewinner mit dem sog. „Erstmandat“, sondern auch Verlierer in den Wahlkreisen mit dem sog. „Zweitmandat“ zu Landtagsabgeordneten gewählt werden. Streng logisch im Sinne der „personalisierten“ Verhältniswahl, aber doch irgendwie schräg, weil im Ergebnis Wahlverlierer zur Wahlgewinnern umettikettiert werden. Und vor allem werden die missverständlich so genannten „Üeberhangmandate“ durch dieses sonderbare Verfahren keineswegs ausgeschlossen. Sie sind gerade in Baden-Württemberg eher die Regel als die Ausnahme. So gab es dort 1980: 4; 1984: 6; 1988: 5; 1992: 26; 1996: 35; 2001: 8; 2006: 19; und 2011: 18 Üeberhang- inklusive Ausgleichsmandate.
Doch Baden-Württemberg ist ein Sonderfall. Wie in vielen anderen Ländern wird auch im Bund anders gewählt. Dort gibt es Landeslisten der Parteien und zwar in jedem einzelnen der 16 Bundesländer. Durchgängig „personalisiert“ werden sie alle nicht. Dazu gibt es gar nicht genug Wahlkreise. Aus der Erfahrung mit den vorangegangenen Wahlen klug geworden, setzte sich bei den kleinen Parteien die Erkenntnis durch, dass für sie der Sieg in einem Wahlkreis eher zur Dekoration des Siegers dient, an der „Mannschaftsstärke“ im Parlament aber nichts ändert. Kurzum, die kleinen Parteien brauchen die Erststimmen überhaupt nicht.
Weil das Splitting contra legem als zulässig angesehen wird, können die Wähler die Erststimmen an einen erwünschten Koalitionspartner abgeben, ohne dass der von ihnen bevorzugten Partei ein mit den Zweitstimmen erlangter Listenplatz im Bundestag verloren geht. Und das tun sie auch: Bei den Bundestagswahl im September 2013 hat mehr als jeder zweite FDP-Wähler seiner Partei die Zweitstimme gegeben, die obsolete Erststimme aber verweigert und vermutlich in großer Zahl an den erwünschten Koalitionspartner „verschenkt“. („Erststimmen-Transfer“)
Was passiert, wenn die Zweitstimmen-Wähler von zwei Parteien in 299 Wahlkreisen mit den Erststimmen die Direktkandidaten einer großen Volksparteien wählen? Die Konzentration der Direktmandate nimmt dort sprunghaft zu. Das ist aber noch nicht alles. Denn die Wahrscheinlichkeit steigt, dass die Listenplätze bei großen Parteien hinter den Direktmandaten zurückbleiben und die fälschlich so genanten „Üeberhangmandate“ entstehen. Und das muss das ohnehin schon wackelige Gebäude der „personalisierten“ Verhältniswahl vollends zum Einsturz bringen. Denn dann gibt es weniger Kuchen als Stücke. Dann bleiben die 598 verfügbaren Sitze im Bundestag hinter de Summe der Mitglieder des Parlaments zurück. – Im Bilde gesprochen gibt es in der Oper weniger Plätze als Karten verkauft wurden.
Gespaltene Wahl auf Gegenseitigkeit
In Ländern, in denen eine Partei weniger Listenplätze erlangt als Direktmandate, kommt die Landesliste dieser Partei gar nicht mehr zum Zuge. Es gibt dort und nur dort keinen Abgeordneten der allein über die Landesliste seiner Partei in den Bundestag gelangt wäre. Denn alle Abgeordneten sind ja in ihren Wahlkreisen direkt gewählt worden. Auch hier ist man aus Erfahrung klug geworden. Auch hier beginnt sich bei den großen Parteien allmählich die Erkenntnis durchzusetzen, dass zumindest in einem solchen Fall die Zweitstimmen überflüssig sind.
Die Wähler einer Landespartei mit weniger Listenplätzen als Direktmandaten können deshalb die obsoleten Zweitstimmen sogar geschlossen „verleihen“ oder verschenken, ohne dass die von ihnen bevorzugten Partei ein Direktmandat einbüßt. Und viele Wähler machen das. (Zweitstimmen-Transfer) Sie stimmen nach dem Motto ab: Wenn die Zweitstimmen für die Listenplätze „verliehen“ oder verschenkt werden, so verbleiben doch die Erststimmen für die Direktmandate. Aber die „superschlaue“ Rechnung nach dem Motto: „Gebt uns die Erststimmen, dann bekommt ihr die Zweitstimmen“, die hat man „ohne den Wirt gemacht“. Durch diese Rechung hat das Verfassungsgericht einen dicken Strich gezogen.
Die Richter des Zweiten Senats haben erkannt, dass ein so genanntes „Üeberhangmandat“ kein konkretes Direktmandat ist und schon gar nicht ein Mandat, das dem Sieger in einem der insgesamt 299 Wahlkreise tatsächlich gar nicht zusteht. Sie haben sich deshalb 1988, 1997, 1998, 2008 und 2012 immer geweigert, die fälschlich sog. „Üeberhangmandate“ grundsätzlich als verfassungswidrig einzustufen und zu verwerfen. Gleichwohl blieb ihnen die absurde Wahlmanipulation der Vereinbarung einer gespaltenen Wahl auf Gegenseitigkeit, bei der die obsoleten Erststimmen der kleinen Parteien zu den großen und entbehrliche Zweitstimmen bei den großen Parteien zu den kleinen wandern, „ein Dorn im Auge“. (Totalsplitting)
Folgerichtig hat das Verfassungsgericht mit Urteil v. 10.4.1997 entschieden: Die missverständlich so gegnannetn „Üeberhangmandate“ seien zulässig. Es dürften aber nicht zu viele werden. Und weil man mit einer so unbestimmten Entscheidung wenig anfangen kann, haben die Richter des Zweiten Senats eineinhalb Jahrzehnte später mit Urteil v. 25.7.2012 erkannt: 15 Üeberhangmandate seien zulässig, mehr aber nicht. Und das setzt dem Stimmensplitting eine unpassierbare Grenze. Entstehen durch das missbräuchlich vereinbarte Totalsplitting auf Gegenseitigkeit mehr als 15 Üeberhänge, dann ist die Wahl ungültig.
Es kommt aber das Urteil des Verfassungsgericht v. 3.7.2008 noch hinzu. Mit dieser Entscheidung ist das so genannte „negative“ Stimmengewicht ohne Wenn und Aber verworfen worden. Es könne nicht sein, dass durch ein Stimmenverzicht ein Mandatsgewinn erzielt werde, tenorierten die acht Richter des Zweiten Senats und bestätigten das in der Entscheidung v. 25.7.2012. Wenn also die großen Parteien auf die Zweitstimmen und die kleinen Parteien die Erststimmen verzichten, um durch den gemeinschaftlichen Stimmenverzicht die Wahl zu gewinnen, wer will dann noch die Hand dafür ins Feuer halten, dass die „personalisierten“ Verhältniswahl den nächsten Spruch aus Karlsruhe überlebt.