Wenn man die CSU in Sachsen wählen könnte …

Durch Stimmensplitting zweimal gewinnen, einmal mit den Erststimmen und noch einmal mit den Zweitstimmen: Träumerei oder Erfolgsmodell?

Wie Bayern ist auch Sachsen ein Freistaat. Wenn man die CSU in Sachsen wählen könnte, wäre es möglich, dort getrennt zu marschieren und vereint zu schlagen. Leider kann man es der CDU nicht beibringen, die AfD mit dieser Strategie in die Position einer Splitterpartei abzudrängen. Würde sich die CSU in Sachsen nur für die Direktmandate und die CDU allein für die Zweitstimmen bewerben, entstünden lauter CSU-Überhangmandate. In Sachsen gibt es 60 Wahlkreise, also maximal 60 Über­hänge. Die CDU behält ihre Listenplätze und bekäme zusätzlich den „Löwenanteil“ der Ausgleichs­mandate! Die Hälfte der zu den Listenplätzen der CDU hinzukommenden Direktmandate der CSU würde schon genügen, um in Sachsen gemeinsam die absolute Mehrheit der insgesamt 120 Mandate plus Überhang- und Ausgleichsmandate zu erlangen.

Doch diese einmalige Chance einer Doppelwahl mit zwei Stimmen erkennen nur die allerwenigsten Politiker. Für die meisten von ihnen bleibt das Wahlrecht ein „böhmisches Dorf“. Sachsen liegt außer­dem in weiter Ferne. Deshalb findet man auch in Teilen der CSU, Markus Söder und übrigen Nachfol­ger von Franz Josef Strauß eingeschlossen, keinerlei Bereitschaft, eine politisch in sich schlüssige Strategie zu verfolgen und die Möglichkeiten des dualen Wahlsystems auszuschöpfen, wie es schon Franz Josef Strauß 1976 leider erfolglos verlangt hatte. Helmut Kohl hätte schon 1976 Kanzler werden können. Denn damals fehlte ja nur ein einziges, in gegenseitiger Absprache herbeigeführtes Überhang­mandat für die absolute Mehrheit von CDU und CSU im Bundestag. Und das hätte Helmut Kohl ha­ben können, wenn nur ein einziger CSU-Erststimmen-Bewerber außerhalb Bayerns gewonnen hätte.

Das Fußvolk der CSU lebt auf einer einsamen Insel der Glückseligen und kann strategisch nicht über den Tellerrand bayerischer Kommunal- und Landespolitik hinausdenken. Dabei schwinden auch in Bayern die gewohnten Mehrheiten. Vor allem wird der CDU nach der Ära Angela Merkels die Frage nach einer Ausdehnung der CSU über die weiß-blauen Landesgrenzen hinaus schon bald wie ein bibli­sches Menetekel an der Wand erscheinen. Schon jetzt zeichnet sich ein politisches Desaster ab. Die große Koalition wird implodieren oder sogar zerbrechen, das ist mehr oder weniger eine Frage der Zeit. Dann heißt es Minderheitsregierung oder Neuwahlen. Und das ist eine Wahl zwischen Pest und Cholera. Doch nach einer Neuwahl ist das Spiel nicht aus, sondern beginnt von vorne.

Es gibt keinen Zweifel daran: Die AfD ist ein Kind der großen Koalitionen. Weil sich die SPD als zweitstärkste Partei geweigert hat, die Wächterrolle in der Opposition zu übernehmen, und als poli­tische Alternative für den Fall bereitzustehen, dass die Regierung abgewirtschaftet hat, gibt es keine ernsthafte Hoffnung auf einen Wechsel in der Politik. Eine fatale Rolle spielte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, der die SPD in die Große Koalition förmlich hineingeprügelt hat. Und eine Ab­sprache über ein Stimmensplitting auf Gegenseitigkeit unter den Schwesterparteien hat die ehemalige CDU-Vorsitzende, Angela Merkel, noch nie in Erwägung gezogen. Auch für ihre Nachfolgerin im Amt bleibt die Strategie: Erststimme für die CSU, Zweitstimme für die CDU ein Fremdwort. Selbst die CSU hat diese verlockende Option vom Tisch gewischt, in einer verabredeten Wahl mit zwei getrennten Stim­men zweimal zu gewinnen; einmal mit der Erststimme und noch einmal mit der Zweitstimme.

Ein erster Schritt

Um hier einen ersten überzeugenden Schritt zu tun, muss die CSU, wenn es zum Bruch der Großen Koalition kommt, auf jeden Fall die Fraktionsgemeinschaft mit der CDU beenden. Man braucht sie nicht. Gegen die Willen der bayerischen CSU könnte dann keine neue Koalitionsregierung gebildet werden. Seehofer könnte Merkel und Merkel könnte Seehofer nicht weiter öffentlich demontieren, schon gar nicht, wenn sie ohne Fraktionsgemeinschaft eine Regierung mit einem dritten Koalitions­partner bilden wollen. Das ist ein großer Vorteil für beide Seiten.

Inzwischen steht der SPD das Wasser bis zum Hals. Die Sozialdemokraten leben politisch von der Hand in den Mund und entwickeln keine glaubwürdige Strategie, um ihren Niedergang abzuwenden. Sie finden nicht dem Mut, die Große Koalition, die längst keine große mehr ist, zu verlassen. Die Par­tei findet nicht einmal mehr den Mut, vor den kritischen Landtagswahlen in Sachsen, Brandenburg und Thüringen den Vorsitz neu zu besetzen. Die SPD zieht die Konsequenz aus ihrer strategischen Fehlentscheidung, die unnatürliche Rolle in einer Großen Koalition der natürlichen Rolle in der Op­position vorzuziehen, erst wenn sie künstlich beatmet werden muss.

Doch schieben wir alle parteipolitische Polemik bei Seite. So unterhaltsam sie ist und so unverzichtbar sie bleibt, um das Wahlvolk an die Wahlurnen zu bringen: Ein Politiker ohne Popularität ist in einer Demokratie chancenlos. Gleichwohl spielen die öffentlichen Angelegenheiten, um die es in der Politik geht, eine ausschlaggebende Rolle. Und diese müssen im wohlverstandenen Sinne der Gemeinschaft aller Staatsbürger geregelt werden. Eine auffällige Regelungslücke ist zum Beispiel, dass die Wahl des Ministerpräsidenten in Bayern befristet ist, im Bund aber monatelang gerungen wird, bis die Kanzlerwahl steht. In Bayern dauert die Regierungsbildung nur wenige Wochen, im Bund – wo die Frist fehlt – dagegen viele Monate. Und es wäre so einfach das zu ändern. – Doch daran denkt nie­mand.

Schlimmer noch ist der Bundestag hoffnungslos überfüllt. „Etwas ist faul im Staate Dänemark“: Es gibt zu viele Abgeordnete. Das haben zwei Präsidenten des Bundestages, Norbert Lammert und Wolf­gang Schäuble, öffentlich gerügt und mehrfach wiederholt. Der Deutsche Bundestag ist weltweit das einzige Parlament, in dem es „zu viele“ Abgeordnete gibt und diese nicht von den Parlamentspräsiden­ten vor die Türe gesetzt werden. In den Landtagen von Sachsen und Bayern ist es nicht besser. Wenn eine U-Bahn oder ein Aufzug überfüllt ist, und die Türen nicht mehr geschlossen werden können, dann muss der Betrieb unterbrochen und Abhilfe geschaffen werden. Die Parlamentarier werden das freiwillig und von sich aus nicht tun und schon gar nicht diejenigen unter ihnen, die überzählig sind. Wenn man einen Teich trockenlegen will, darf man nicht die Frösche fragen.

Doch das ist noch lange nicht alles. Denn das deutsche Wahlverfahren hat einen schweren Geburtsfeh­ler. Die Verfassung verlangt die unmittelbare Wahl der 598 Personen, die das Volk für die Dauer einer Legislaturperiode im Parlament vertreten sollen. Die Deutschen wählen aber nur einen Teil Abgeord­neten im Bundestag und in 13 von 16 Landtagen unmittelbar. Im Landtag von Sachsen gibt es regulär z.B. 120 Sitze, aber nur 60 Direktmandate. Es kann deshalb nur ein Teil der Mitglieder des Landtags direkt gewählt, wie es das Grundgesetz für den Bund, aber auch für die Landtage vorschreibt. Bei dem verbleibenden Rest ist das nicht der Fall. Und das ist ein grober Verfassungsverstoß. Doch Papier ist geduldig. Und wir haben uns daran gewöhnt, dass nur ein Teil der Abgeordneten direkt gewählt wird, der andere eben nicht. Verfassungsrechtlich stehen die Bundestags- aber auch die Landtagswahlen in Brandenburg, Sachsen, und in Thüringen also auf wackeligen Füßen. – Aber wo kein Kläger, da kein Richter.

Wo kein Kläger, da kein Richter

Dieser Mischmasch aus Direktwahl und Verhältniswahl, wie er bei der Bundestagswahl und in 13 von 16 Bundesländern in Gebrauch ist, begünstigt die radikalen Minderheiten auf der linken wie auf der rechten Seite des demokratischen Spektrums. Wir wählen auch in Sachsen, Brandenburg und in Thü­ringen mit zwei Stimmen. Und zwei Stimmen sind zwei Wahlen. Zwei Wahlen sind aber auch zwei Wege in das Parlament. Wenn man bei den Erststimmen verloren hat, kann man mit der zweiten Stim­me trotzdem in den Landtag bzw. in den Bundestag einziehen. Die Zweitstimme wirkt wie eine „Ab­geordnetenversicherung“. Wer bei den Aufstellungsversammlungen der Parteien einen „sichern“ Li­stenplatz ergattert konnte, der hat die Wahl schon in der Tasche, egal ob er in seinem Wahlkreis ver­liert.

Würde man alle Abgeordneten nur mit einer Stimme, also der Erststimme wählen, würde sich die poli­tische Landschaft nicht nur in Brandenburg, Sachsen und in Thüringen, sondern auch im Bund voll­kommen verändern. Martin Schulz würde gar nicht im Deutschen Bundestag sitzen, denn er hat seinen Wahlkreis nicht gewonnen, sondern ist über einen „sichern“ Listenplatz der SPD in das Parlament ein­gezogen. Die Reihe der Wahlkreisverlierer mit Bundestagsmandat ist gespickt mit prominenten Na­men:

Heiko Maas (SPD), MdB und Verlierer im Wahlkreis Nr. 297 (Saarlouis); Ursula von der Leyen (CDU), MdB und Verliererin im Wahlkreis Nr. 42 (Hannover II); Andrea Nahles (SPD), MdB und Verliererin im Wahlkreis Nr. 19 (Ahrweiler); Christian Lindner (FDP), MdB und Verlierer im Wahlkreis Nr. 100 (Rheinisch-Bergischer Kreis); Cem Özdemir (Grüne), MdB und Verlierer im Wahlkreis Nr. 258 (Stuttgart I); Alexander Gauland (AfD), MdB und Verlierer im Wahlkreis Nr. 63 (Frankfurt (Oder) – Oder Spree); Bernd Rixinger (Linke), MdB und Verlierer im Wahlkreis Nr. 259 (Stuttgart II).

Maas, von der Leyen, Nahles und wie sie allen heißen mögen, sie gehören zu den 410 Mitgliedern des Bundestages, von denen die meisten 2017 zugleich für einen Wahlkreis kandidiert, ihn aber nicht ge­wonnen haben und trotzdem in den Bundestag eingezogen sind – eine urdeutsche Spezialität!

Die SPD muss mehr direkte Demokratie wagen

Bei einer klassischen Direktwahl würden sie natürlich nicht zwangsläufig von der politischen Bild­fläche verschwinden. Denn sie würden ganz anders um das politische Überleben kämpfen, wenn sie nur eine Chance hätten. Und das ist der springende Punkt: Die Direktwahl sondert unerbittlich aus, wer in seinem Wahlkreis nicht einmal die einfache Mehrheit gewinnen kann. Nur die erste Wahl ge­langt in das Parlament. Und eine Partei, die sich nicht zutraut, in der Direktwahl zu bestehen, ist krank.

Die SPD muss also „die Schiffe hinter sich verbrennen“ und ihre Bewerber um ein politisches Mandat – sei es im Bund, sei es in den Ländern – dazu zwingen, sich der Direktwahl zu stellen, also nicht auf Platz zu setzen, sondern auf Sieg. Das verändert nicht nur die Mentalität der Partei. Das steigert auch das politische Ansehen der Abgeordneten. Viele Wähler, vor allem, wenn sie der SPD ihre Stimme früher schon einmal gegeben haben, würden für sie an der Wahlurne erneut Partei ergreifen. In Groß­britannien wird außerdem der Parteichef der Tories von ihrer Fraktion im Unterhaus nominiert und danach auf einem Parteitag bestätigt. Nicht nur die SPD auch die CDU kann sich von diesen Verfah­ren „eine Scheibe abschneiden“.

Über die Vorzüge der Direktwahl nach dem „Westminster-Modell“ kann man lange diskutieren. Man kann hervorheben, dass sie ohne Sperrklausel auskommt, dass die einfache Mehrheit leichter zu errei­chen ist als die absolute, dass es keine Überhang- und keine Ausgleichsmandate gibt und deshalb im Unterhaus nicht „zu viele“ Abgeordnete sitzen usw. usf. Doch das alles überzeugt viel weniger als die simple Tatsache, dass sich die SPD „die Finger schlecken“ würde, wenn sie auch nur annähernd in der Situation wäre wie die Labour Party im Unterhaus.

Die Fraktionsführer, Ralph Brinkhaus (CDU) und Rolf Mützenich (SPD) und Alexander Dobrindt (CSU) könnten, sogar an den Vorsitzenden von CDU, CSU und SPD vorbei, den Wechsel zu einer un­verkürzten Direktwahl aller 598 Abgeordneten des Bundestages gemeinsam auf den Weg bringen. Sollten die Fraktionen der Koalition das in einer Sternstunde des Parlaments beschließen, könnte sie niemand davon abhalten. Kramp-Karrenbauer ist kein Mitglied der CDU/CSU-Fraktion. Auch die drei Interimsvorsitzenden der SPD sind es nicht. Noch haben die Fraktionen der Koalition die Mehrheit im Bundestag. – Wenn aber die sog. Große Koalition erst einmal zerbrochen ist, … – dann herrscht Heulen und Zähneklappern. Denn dann ist es zu spät!

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