Wenn „weißer Rauch“ aufsteigt
Mehrheit ist Mehrheit. Doch es gibt die einfache, die absolute, die qualifizierte Mehrheit, und es gibt die Einstimmigkeit. Und wenn man der demokratischen Willensbildung wie im europäischen Rat jedenfalls „de facto“ die Einstimmigkeit zugrunde legt, darf man sich nicht beklagen, dass diese nur sehr selten erreicht wird, weil sich jeder einzelnem der Beteiligten „querlegen“ kann. Keine Einstimmigkeit, wohl aber die qualifizierte Mehrheit gilt z.B. für die Papstwahl. Zwei Drittel der Kardinäle müssen sich auf eine Person einigen, die so zum Papst gewählt wird. Und es gilt schon als sehr erstaunlich, wenn schon nach fünf Wahlgängen über dem Wahllokal der sixtinischen Kapelle „weißer Rauch“ aufsteigt, weil die hohe Hürde der qualifizierten Mehrheit in überraschend kurzer Zeit überwunden wurde.
Einstimmigkeit ist bei einer Volkswahl unerreichbar. Das liegt auf der Hand. Aber auch die qualifizierte Mehrheit wäre dafür vollkommen untauglich, weil das ganze Volk nicht so oft zur Wahl gehen kann, bis es zur Entscheidung kommt. Die Franzosen verlangen daher nicht die qualifizierte, wohl aber die absolute Mehrheit, d.h. mehr als die Hälfte der abgegebenen Stimmen. Und weil auch das auf Anhieb nur selten zu erreichen ist, wenden sie das K.O.-System auf alle Bewerber an, ausgenommen die beiden privilegierten Bewerber mit den meisten Stimmen. Diese Verletzung des Prinzips der Volkswahl, an der alle unter gleichen Bedingungen teilnehmen können nennt man Stichwahl. (Romanisches Wahlsystem) Und das bedeutet von vorne herein zwei völlig ungleiche Wahlgänge auf der Seite des passiven Wahlrechts.
Die Stichwahl wird zum Pyrrhus-Sieg
Die Franzosen wählen zuerst den Staatspräsidenten und danach die Mitglieder des Parlaments. Das sind zusammen schon vier Wahlgänge. Kommen noch Bürgermeister- und Kommunalwahlen hinzu, wird das Volk achtmal an die Urnen gerufen. Bei den Stichwahlen sinkt die Wahlbeteiligung regelmäßig stark ab. In den meisten Fällen werden daher sowohl der Staatspräsident als auch die Abgeordneten des Parlaments am Ende von deutlich weniger als der Hälfte aller Stimmberechtigten gewählt. Die Vorgabe der Wahl mit absoluter Mehrheit der gültig abgegeben Stimmen führt also in der Regel dazu, dass dem Sieger die absolute Mehrheit im Wahlvolk fehlt. – Die Stichwahl wird so zu einem Pyrrhus-Sieg.
Und das hätte man viel einfacher haben können. So argumentieren jedenfalls die Briten. Sie wählen nicht nach dem Prinzip der absoluten Mehrheit mit anschließender Stichwahl, falls sie verfehlt wurde. Ihnen genügt von vorne herein die einfache Mehrheit. (Westminster-Modell) Wer die meisten Stimmen hat, ist gewählt. Wer sie nicht hat, ist nicht gewählt. Weil die Hürde der einfachen Mehrheit niedrig ist, führt das schon im ersten Wahlgang zwangsläufig zur Entscheidung. Und es kommt auch nur selten zu einem „hung parliamanent“, d.h. einer Hängepartie bei der Regierungsbildung. Außerdem wird der Premierminister nicht vom Volk sondern im Unterhaus gewählt. Die Briten kommen daher mit einem einzigen Wahlgang aus.
Dieses zweistufige System der demokratischen Willensbildung im „house of commons“ ist in den Urkunden des Vereinigten Königreichs schon 1429 nachweisbar. Und die Briten haben am 6.5.2011 in einer Volksabstimmung mit großer Mehrheit den Versuch der Liberalen abgewehrt, die Wahl mit einfacher Mehrheit abzuschaffen.