Ein Gespann aus Ochs und Esel

Statt 135 hat der Landtag von Niedersachsen 146 Mitglieder

Die Landtagswahl in Niedersachsen v. 9.10.2022 bleibt „ein Buch mit sieben Siegeln“. In Hannover gibt es mehr Abgeordnete als im Landtag reguläre Sitze vorhanden sind. Ähnlich wie bei Bundestagswahlen kommt auch in Niedersachsen eine Spielart der Verhältniswahl zum Zuge, die mit der Personenwahl zu verbinden ist, was aber nur teilweise geschieht. Neben zahlreichen Unstimmigkeiten entstehen daraus die leidigen „Überhänge“. Diese werden – einmalig auf der ganzen Welt – nachträglich „ausgeglichen“.

Der niedersächsische Landtag besteht aus mindestens 135 Abgeordneten. Davon werden 87 mit der Erststimme in Wahlkreisen direkt gewählt. weil es nicht genug Wahlkreise gibt, gelangen 48 Abgeordnete nur über die Landeslisten der Partien in das Parlament. Sie werden auf dem Umweg über die geschlossenen Listen der Parteien allein mit der Zweitstimme, d.h. indirekt gewählt. Im Fall der 48 Listenplätze haben die Wähler auf den Stimmzettel also nicht eine Person, sondern eine Partei gekennzeichnet. Eine Partei kann aber selbst und als solche gar nicht Mitglied des Landtags werden. Der oder die Abgeordnete ist immer eine natürliche Person. Die Per­sonenwahl ist ein Gebot der Verfassung. Die sog. „Verhältniswahl“ ist das nicht.

Ein Gebot der Verfassung

Für sich alleine genommen ergibt sich aus der Zweitstimme keine unmittelbare, sondern nur eine mittelbare Wahl. Ohne gleichzeitige Personalisierung durch die Erststimme kann die Zweitstimme vor dem Grundsatz der unmittelbaren Wahl keinen Bestand haben.(Verbundabstimmung) Direktmandate und Listenplätze müssen immer deckungsgleich sein, sind es aber nicht. Man bezeichnet das duale Verfahren mit Erst- und Zweitstimme deshalb auch als „Grabenwahl“, weil beide wie durch einen tiefen Graben voneinander getrennt werden. Da die Zahl der 87 Wahlkreise hinter der Zahl der 135 Mitglieder des Landtags zurückbleibt, kommen die Abgeordneten auf zwei grundverschiedenen Wegen in den Landtag von Hannover. Eine getrennte Wahl mit zwei Stimmen widerspricht von vorne herein dem Grundsatz der glei­chen Wahl. Entweder werden alle Abgeordneten mit beiden Stimmen gewählt oder keiner.

Zusätzliche Verwirrung entsteht, weil beide Stimmen mit einander verbunden werden sollen und so „ein Gespann aus Ochs und Esel“ entsteht. Über die 87 Wahlkreissieger wird mit einfacher Mehrheit abgestimmt. Wer die meisten Stimmen erlangt hat, ist gewählt und zieht in den Landtag ein. Von der Person des Abgeordneten kann man aber seine Parteizugehörigkeit nicht abtrennen. Man muss sich daher fragen, warum man die mit der Person untrennbar verbundene Partei mit einer Zweitstimme zusätzlich noch einmal wählen soll. Diese Überfrachtung ergibt keinen Sinn. Hinzu kommt, dass beide Stimmen nicht im Verbund abgegeben werden müssen, sondern auch voneinander getrennt werden können, die nur fakultative Verbundwahl teilweise, im Extremfall sogar ganz aufgelöst werden kann und daraus die leidigen „Überhänge“ entstehen. Durch Stimmensplitting könnten also maximal 87 sog. „Überhänge“ entstehen.

Kommt es zu „Überhängen“, werden diese auch in Niedersachsen „ausgeglichen“, was immer das zu bedeuten hat. Doch Wahlen werden ausgezählt, niemals aber nachträglich ausgeglichen. Trotzdem werden in Niedersachsen alle „Überhänge“ zusammengezählt, ver­doppelt, zum Wahlergebnis hinzuaddiert und alle Sitze zusammen auf die im Landtag vertretenen Landesparteien nach den von Ihnen erreichten Anteilen an den Zweitstimmen anders verteilt als das die Wähler mit den Stimmzetteln entschieden haben. Im Ergebnis hat der Landtag in Hannover deshalb nicht 135, sondern 146 Mitglieder. Das sind 11 zusätzliche Abgeordnete, die gleichsam wie „blinde Passagiere“ im Parlament des Landes Sitz und Stimme haben.

Blinde“ Passagiere

Die sog. „Überhänge“ sind in Wahrheit keine konkreten , und schon gar keine un­zulässigen Mandate, die einem mit den Erststimmen direkt gewählten Mandatsträger in Wahr­heit gar nicht zustehen, wie landauf landab fälschlich behauptet wird. Gewählt ist gewählt. Und wenn alle 87 Direktmandate ordnungsgemäß gewählt sind, entfällt der Rechtsgrund für den Mandatsausgleich. Es gibt keine ordnungsgemäß gewählten Abgeordneten, denen ihr Direktmandat nicht zusteht. Man muss sich also davor hüten, die sog. „Überhänge“ zweimal zu zählen, einmal unter den zulässigen Direktmandaten. Und noch einmal als vermeintlich un­zulässige „Überhänge. – Ist das Wahlergebnis in Niedersachsen also ein bloßer Zählfehler?

„Überhänge“ sind Unterschiedszahlen, also Abstände zwischen den Direktmandaten und den Listenplätzen einer Landespartei. Die Überzahl an Direktmandaten bei einer Partei entspricht der Unterzahl bei einer anderen. Unterzahlen bei einer Landespartei entstehen, weil die betroffene Partei für den Gleichstand von Direktmandaten und Listenplätzen nicht genug Direktmandate erzielen konnte. Die FDP konnte in Niedersachsen kein einziges Direktman­dat erzielen. Auch bVon einer personalisierten Verhältniswahl kann hier überhaupt keine Rede sein. Auch bei den anderen Parteien bleiben die Direktmandate hinter den Listenplätzen deutlich zurück. Umgekehrt wird deshalb ein Schuh daraus: Wenn überhaupt, müsste man zuerst und auf jeden Fall die Unterzahl an Direktmandaten kritisieren, die es in einer vollständig „personalisierten“ Verhältniswahl nicht geben kann und nicht geben darf.

Trotz aller z.T. verfassungsrechtlich relevanten Unstimmigkeiten halten der Parlamentarier in Bund und Land hartnäckig an dem dualen Wahlsystem mit zwei Stimmen fest. Und das hat einen einfachen Grund. Wer bei der Erststimme verliert, dem bleibt die Zweitstimme als „Rettungsring“ erhalten. Ein Wahlkreisverlierer kann also über einen „sicheren“ Listenplatz trotzdem in den Landtag oder Bundestag einziehen. Die doppelte Wahlchance ist ein un­überwindbares Argument für alle Parlamentarier, das sie sich nicht ausreden lassen.

Die großartigen Ideen haben sich vor den schnöden Interessen schon immer blamiert.

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